
Daoismus - Ganzheitlichkeit durch Gegensätzlichkeit
Adrean LiegelIn diesem Artikel schreibe ich viele Sachen und nutze viele Worte. Dennoch bietet dieser Artikel kaum mehr als einen flüchtigen Einblick in die Thematik. Würde ich den Beitrag neu schreiben, würde ich eventuell gänzlich andere Worte und andere Schwerpunkte setzen. Doch passend, so wie das Dao ist, so fließt auch dieser Text. Gedanken wie Wolken, die kommen und gehen. Nichts in Stein gemeißeltes und weniger eine umfassende Analyse, als vielmehr authentische Einblicke und Impulse.
Inhaltsverzeichnis:
Was ist Daoismus?
Das Wort Dao lässt sich nicht oder nur schwer ins Deutsche übersetzen. Erstens, weil der Originalbegriff im Altchinesischen viel Deutungsvariabilität zulässt und zweitens, weil der Begriff an sich nur notdürftig für ein Prinzip bzw. ein Geschehen steht, das sich eigentlich gar nicht in Worte fassen lässt, sondern nur ge- und erlebt werden kann (Mystik).
“Dao” bedeutet wörtlich übersetzt unter anderem "Weg”, “Straße”, “Pfad” oder auch “Methode”, “Prinzip”, “Lehre”, “Sinn” und einiges mehr. Der Bedeutung nach beschreibt der Begriff Dao den Fluss dessen, das allem Seienden (und Nicht-Seiendem) zugrunde liegt.
Das chinesische Schriftzeichen für Dao (道) setzt sich aus drei Teilen zusammen: Der oberste Teil steht für Yin und Yang (Balance durch Gegensätze), der mittlere Teil steht für das “Selbst” und der letzte Teil bedeutet gehen, bewegen oder handeln. Das bedeutet, dass sich alles (immer) in einem dynamischen Fluss von Auf und Ab befindet und jeder in sich selbst die eigene Kraft und die Antwort trägt, die es braucht, um in Harmonie und Einklang mit diesem Vorgehen, dem Geschehen, zu treten: Müheloses Sein.
Dao beschreibt den Lauf des Lebens und aller Existenz (und Nicht-Existenz). Daoimus bzw. das zugrundeliegende Prinzip kann sich in Form von Religion und Philosophie äußern, genauso wie in Sport, Musik, Kunst und allen anderen Bereichen unseres Lebens - es ist eine Lebens- und Betrachtungsweise, ein Ausdruck der Wirklichkeit.
Spannend an dieser Stelle: In Asien wurde und wird weit weniger zwischen Philosophie und Religion unterschieden als beispielsweise im Westen. Religion und Philosophie sind dort zwei Seiten ein und derselben Medaille, Betrachtung und Auslebung, die gemeinsam im Geistigen zusammenfließen. Wo wir im Westen Dinge immer kleinteiliger sezieren und für sich studieren, tritt man in Asien eher einen Schritt zurück, um das große Ganze erkennen zu können.
Das bedeutendste Werk des Daoismus ist das Daodejing und sein Verfasser, Laozi (auch Lao-tzu), gilt als der prägendste Denker dieser Strömung - mehr dazu im nächsten Abschnitt. Doch vorher noch eine kurze Geschichte zur besseren Einordnung des Daoismus.
Die Geschichte der drei Weisen:
Um einen großen Kessel mit Essig standen drei Weise zusammen. Nicht irgendwelche Weisen, sondern die drei einflussreichsten Weisen Chinas: Konfuzius, Buddha und Laozi. Andächtig nahm jeder von ihnen einen Löffel und kostete den Essig.
Konfuzius verzog das Gesicht. Für ihn schmeckte der Essig sauer - so wie auch sein Weltbild voller verkommener Menschen und Korruption war, weshalb er Regeln und Rituale forderte, um Harmonie und Ordnung wiederherzustellen.
Buddha kniff die Augen zusammen. Für ihn schmeckte der Essig bitter - so wie auch das Leben voller Bitterkeit war, weil das ständige Verlangen der Menschen zu Leid und Trauer führte und Erlösung nur in der Abwendung gefunden werden konnte.
Laozi jedoch schmunzelte. Für ihn schmeckte der Essig süßlich - so wie auch sein Leben süßlich war, weil das Leben keine Fehler macht. Für Laozi ist jeder Moment ein großes Geschenk, eine freudige Abwechslung und eine willkommene Überraschung.
Weiter geht es mit dem Daodejing...
Was ist das Daodejing?
Das Daodejing ist die bedeutendste überlieferte Schrift des Daoismus und wurde vor rund 2500 Jahren (ca. 6 Jh. v. Chr.) von Laozi verfasst. Ob Laozi wirklich existierte, ist unklar. Laozi bedeutet übersetzt so viel wie “der Alte”. Im Zentrum der Lehre steht ein einfaches, friedliches und harmonisches Leben (und Sterben) im Einklang mit der Natur und dem Universum.
Der Begriff Dao (道) lässt sich, wie bereits erläutert, vielseitig übersetzen (Weg, Fluss, Lauf, Prinzip, Lehre, Sinn) und De (德) steht für Tugend, Ethik, Integrität oder auch “Innere Kraft”. Jing (经) bezeichnet ein kanonisches Werk, einen Leitfaden oder eine klassische Sammlung von Schriften. Das Daodejing ist demnach eine Ansammlung von Anleitungen hin zu einem guten Leben im Einklang mit dem ewig konstanten Lauf der Veränderung und allem Seienden.
Manchen Interpretationen nach lässt sich das Daodejing in zwei Teile untergliedern - in “Dao” und “De”. Die erste Hälfte des Buches (Kapitel 1-37) widmet sich dem eher passiven Teil, dem Äußeren - dem Dao - und die zweite Hälfte (Kapitel 38-81) widmet sich dem eher aktiven Teil, der inneren Kraft - dem De. Im Zentrum der Erzählung steht dabei das Idealbild des Weisen - der wahrhaftige und authentische Mensch. Vollkommen gelassen und gelöst. Bis zu dem Punkt der Unsterblichkeit, weil Subjekt und Objekt zu einem verschmelzen - Sternenstaub!
Die Schriften entstanden in einer kriegerischen Zeit und appellieren an Eigenverantwortung und Selbstführung. Der Legende nach soll Laozi das Land (China) wegen der aus dem Gleichgewicht geratenen Unruhen auf einem Ochsen reitend Richtung Westen verlassen haben. Als er die Grenze erreichte, wurde er von einem Grenzer erkannt. Dieser bat ihn um einen letzten guten Rat - woraufhin sich Laozi setzte und das Daodejing in einem niederschrieb. Er übergab es dem Grenzer, ritt von dannen und wurde nie mehr gesehen.
Zum Inhalt des Daodejings:
Natürlich lassen sich ein paar der im Daodejing beschriebenen Weisheit leicht übersetzen und stark vereinfachen, doch um dem Dao zu folgen braucht es mehr als nur die Summe seiner Teile. Das Dao lässt sich nicht sprechen, sondern kann nur gelebt werden, weil es sowohl formlos als auch formgebend ist - ganzheitlich und gegensätzlich.
Das Dao, das sich in Worte fassen lässt, ist nicht das wirkliche Dao - wie schon die ersten Zeilen des Daodejings berichten. In poetischen Rätseln darüber zu sprechen, kann das Dao besser kommunizieren, als alle beschreibenden Wörter es je könnten. Deshalb ist das Daodejing auch in Vers- und Reimformat. Kunst spricht direkt zum Herzen. Es geht mehr um echtes Leben, um Machen und Sein, als um verquerendes Denken und Intellekt.
Spannend auch: Im Zuge meines Forschens zu diesem Gebiet bin ich unter anderem über Nagarjuna gestolpert. Nagarjuna ist ein Nachfolger Buddhas und prägende Figur des Zen-Buddhismus. Besonders spannend fand ich (neben seinen allgemeinen Lehren über die Leere), dass er in Frage stellte, ob Worte überhaupt ein geeignetes Kommunikationsmittel seien. Ich selbst sage immer: “Worte sind einseitig und doppeldeutig”. Und Nagarjuna behauptete, dass Tanz, Musik und ähnliche Ausdrucksformen in vielerlei Hinsicht klarer und geeigneter seien, um einander verständlich zu machen und sich selbst mitzuteilen.
Weitere spannende Gedanken zum Thema Sprache findest du auch bei Wittgenstein. Der behauptete zum Beispiel, dass wir uns einander überhaupt nie wirklich komplett verstehen könnten. Für mehr Infos einfach im Internet suchen (Stichwort: “Wittgenstein Sprache”).
Was auch immer wir jemals beschreiben wollen, mit Worten werden wir es nie wirklich vollumfänglich beschreiben können. Natürlich können wir einander sagen “Ich habe Fußball gespielt” oder “Das Essen ist fertig”, aber das Bild bzw. der Gedanke, der sich dazu bei jedem im Kopf einstellt, ist immer ein wenig unterschiedlich und von der Realität abweichend. Mit Worten können wir uns höchstens einander nähern - oftmals aber auch komplett aneinander vorbei reden (selbst wenn wir denken, einander zu verstehen).
Und wenn dann noch die eigenen Ängste, Zwänge, Prägungen und Erfahrungen mit rein spielen, dann sind wir erschreckend oft in ganz unterschiedlichen Welten unterwegs.
Es gilt die Weisheit - und auch nur so lässt sich die “totale” Wirklichkeit erfahren - wahrzunehmen und zu erleben - und nicht mit Worten festzuhalten und auszudrücken. Wie beschränkt können wir denken, das Leben, unsere Empfindungen und unsere täglichen Zustände mit Worten teilen und kommunizieren zu können? Wir limitieren uns, indem wir uns überhaupt auch nur in sprachlichen Mustern bewegen. Wie einen 3, 4 oder 5 Dimensionalen Raum in 2D wiedergeben wollen - schlichtweg unmöglich, irreführend und stark verzehrt.
Worte sind Werkzeuge, die wir zur rechten Zeit geschickt und sinnvoll nutzen können. Was wir aber mit unserem ständigen und zumeist ungerichteten Plappern machen, ist, ungehalten und aufgebracht mit Hämmern zu werfen, statt gezielte Nägel zu versenken.
Passendes Zitat hierzu: Im Zen findest du keine Antworten, sondern verlierst die Fragen - gleiches gilt auch für den Daoismus, obwohl es hier auch lauten könnte: Im Daoismus findest du keine Antworten, sondern verlierst dich in den Fragen. Naja, Worte halt... Wie dem auch sei - um das und vieles mehr dreht es sich im Daodejing.
Meine eigene Version und getreue Übersetzung des Daodejings findest du hier, als eBook im PDF-Format inklusive Druck-Version zum Ausdrucken und selber binden (mit Anleitung). Einfach selber machen: Daodejing - Vom Lauf und der Kraft
Weiter geht's mit dem praktischen Teil.
Was nützt Daoismus?
Nützen ist in diesem Kontext eigentlich das falsche Wort, weil es eher um den Prozess als um das Ergebnis geht. Es gibt nichts zu erlangen, das nicht schon ist. Daoismus lehrt uns, Dinge und Gedanken loszulassen und anzunehmen, statt Vorstellungen und Erwartungen anzustreben und anzuhaften. Vage Eventualitäten, statt starre Dogmen. Entspannung statt Anspannung. Das richtige Tun zur rechten Zeit. Daoismus schenkt uns die Möglichkeit der Betrachtung, die es braucht, um unser eigenes, der Natur entsprechendes Potential zu entfalten.
Daoismus lehrt uns die Begebenheiten, die wir in unserem Leben bisweilen als problematisch empfinden, nicht mehr als Probleme zu sehen, sondern als das, was sie sind: Nämlich Empfindungen und Erscheinungen der Erfahrungen unserer Erlebnisse. Was nützt uns das? Es sind nicht die Dinge selbst, die uns Angst, Wut, Trauer oder Sorge schaffen, sondern unsere Blickwinkel, Betrachtungen und Bewertungen dieser.
Dir widerfährt kein Leiden, sondern du leidest an dem dir widerfahrenen. Ein bekannter Spruch lautet: “Warum ärgern, wenn du es ändern kannst? Und warum ärgern, wenn du es nicht ändern kannst?”. Das Leben ist kein Problem, das es zu lösen, sondern eine Wirklichkeit, die es zu erleben gilt. Das Leben ist in jedem Moment vollkommen.
Daoismus lehrt uns, die Steine, die uns das Leben vor die Füße wirft, nicht nur nicht mehr zu bewerten, sondern sogar dankend anzunehmen und für uns zu nutzen. So wie bei Aikido (eine Kampfsportart) der Schwung des Gegners genutzt wird, um ihn mit wenig Kraft über die eigene Schulter zu werfen.
Daoismus ist die Lehre dessen, wie wir das natürliche Gefüge unserer Welt, den Seiens-Fluss bzw. die Wirklichkeit erkennen und wie wir unser Leben mittels eigenem Wirken entsprechend in Einklang und Balance bringen, um in jedem Moment einfach, klar und bewusst mit dem Lauf zu fließen, statt gegen den Strom zu strampeln.
Wer dem Dao folgt, passt sich der Wirklichkeit an und öffnet sich ihrer, indem er (oder sie) sich frei von Verlangen und Begehren macht, um alles Gegebene und Unvermeidliche mit Lebensfreude und Gelassenheit anzunehmen und anzugehen, statt durch falsche Vorstellungen und Erwartungen selbst Probleme zu kreieren und zu verschlimmern.
Der Daoist lebt im Einklang mit dem Universum. Und so klar das auch klingen mag, die Lehre des Dao kann effektiv nur mystisch kommuniziert und umschrieben werden. Jeder Versuch, die Weisheit in Worte zu fassen, endet zwangsläufig in einem Ausdruck der eigenen Narrheit. Wird eine Seite ergriffen, verbleibt die andere im Dunkeln.
Die Welt und das Leben wirken oftmals paradox - und das ist ok. Alles ist gut! Wir müssen uns nur ein wenig entspannen und klar kommen. Die Welt mehr so sehen lernen, wie sie ist, statt so, wie wir sie sehen oder nicht sehen wollen, aufgrund von Prägungen, Bias und Co. Wie Bambus, der sich mit dem Wind biegt - stabil und flexibel zugleich.
Passend dazu: Dank dem Daodejing habe ich den Begriff “Erleuchtung” noch einmal ganz neu kennen und verstehen gelernt. Ein häufig im Daodejing genutztes Synonym ist der Begriff “Klarsicht”. Das Schriftzeichen für diese Klarsicht oder Erleuchtung beinhaltet (wenn ich mich recht entsinne), den Mond und seinen Schein. So wie du im hellen Mondschein die Welt erkennst, so sieht der Erleuchtete die Dinge klar.
Wie geht Daoismus?
Der folgende Hauptteil versucht einige der Kernthemen des Daoismus am Beispiel des Daodejings zusammenzufassen und aufzugliedern. In Wirklichkeit gibt es noch viel mehr und auch ganz anders darüber zu berichten - am besten liest und studierst du selbst das Daodejing. Fürs erste aber, bieten die folgenden Punkte einen guten Überblick.
Getreu dem Daodejing sind die folgenden Prinzipien in “Dao” und “De” unterteilt. Manches mag ich bereits in den vorangegangenen Absätzen angesprochen haben, doch gehe ich der Ordnung und Vollständigkeit halber im Folgenden noch einmal auf alles ein. Wie im echten Leben: Beständiges Wiederholen. Los geht es mit dem Dao (Kapitel 1-37).
Dao - Schicksal, Wirklichkeit, Seienslauf
Das Dao ist der einzig mögliche und tatsächliche Weg, der immer voranschreitet - ob mit unserem Willen oder gegen unseren Willen. Den Weg können wir nicht ändern, unseren Willen hingegen schon. Ein Weg zum Erfolg ist es, zu versuchen, die Welt an die eigenen Bedürfnisse anzupassen. Das wird auf Dauer anstrengend und wird niemals komplett gelingen. Sehr viel leichter und vollends in unserer eigenen Hand ist, uns selbst der Welt und etwaigen Gegebenheiten anzupassen. Selbstständig und abhängig zugleich.
Alles, was wir tun müssen, ist den natürlichen Lauf der Dinge zu erkennen und dem Rhythmus zu folgen. Das Dao ist ähnlich dem Logos im Stoizismus. Unsere Rolle im Leben erkennen, annehmen, spielen und lieben. Wie der hegelsche Weltgeist, das Schicksal oder der Lauf der Dinge. Amor Fati - Liebe dein Schicksal. Das Dao ist keine kontrollierende Macht mit Kraft der Vorhersehung, sondern einfach nur der normale deterministische Ablauf aller Dinge, Aktion und Reaktion, der Urknall oder was auch immer - und vielleicht noch ein bisschen mehr.
Kurz und falsch ausgedrückt (weil zu sehr vereinfacht): Was das Dao im Daoismus, das das Brahman im Hinduismus, Dharma und Nirvana im Buddhismus, Logos im Stoizismus, Jahwe bei den Juden, Gott bei den Christen, Allah bei den Muslimen oder Manitu bei den nordamerikanischen Indianern. Das ewige, alles verbindende und allem zugrunde liegende Urprinzip.
Der Hauptbestandteil dieses Prinzips lässt sich mit Yin und Yang zusammenfassen.
Yin und Yang - Gleichgewicht, Gegensatz
Das Dao basiert auf Gegensätzen - Yin und Yang. Alles ist in ständiger Bewegung und alles ist eins. Die Einheit von allem ergibt sich aus sich bedingenden Gegensätzen, die sich nicht bekämpfen, sondern einander überhaupt erst ermöglichen und ergänzen (Interdependenz). Yin und Yang bedingen sich nicht nur, sondern schaffen einander. Es ist kein Entweder - Oder, sondern ein Sowohl - Als auch. Ohne das Eine könnte das Andere nicht existieren. Wenn etwas hell ist, muss an anderer Stelle auch Dunkelheit sein. Wie sonst könnten wir das Helle als hell ausmachen, wenn es nichts gäbe, an dem wir es kontrastieren könnten.
Wie Sido gesungen hat: “Wenn nichts schön ist, bin ich auch nicht hässlich!”
Gut und schlecht im Sinne von richtig und falsch gibt es nicht. Die Natur ist indifferent und unterscheidet nicht (Wichtiger Punkt an dieser Stelle: Daoismus ist Amoralisch! Die Wirklichkeit bewertet nicht, sie ist und macht einfach nur). Um Wärme spüren zu können, braucht es auch Kälte. Um Schönheit zu erkennen, braucht es auch Hässlichkeit. Und um Helligkeit wahrzunehmen, braucht es zwangsläufig auch Dunkelheit.
Das bekannte Zeichen “Yin und Yang” verkörpert diesen wichtigen Kerngedanken des Dao. Yin bedeutet soviel wie “dunkel” oder “schattig” bzw. „Nordhang des Berges“. Das Schriftzeichen setzt sich aus den Zeichen für „Hügel“ und „Schatten“ zusammen. Yang bedeutet entsprechend “hell” oder „sonnige Anhöhe“ bzw. „Südseite des Berges“. Das Schriftzeichen zu Yang setzt sich aus den Zeichen für „Hügel“ und „Sonnenstrahlen“ zusammen. Das ist auch, was das schwarz-weiß ineinanderfließende Kreis-Zeichen des Yin und Yang darstellt, einen geschwungenen Berghang aus der Vogelperspektive.
Das schwarze Yin steht symbolisch für alles dunkle, weiche, feuchte, kalte, negative, passive, ruhige und weibliche und das weiße Yang steht für alles helle, hohe, harte, heiße, positive, aktive, bewegte und männliche - per se wertungsfrei wohlgemerkt (nicht besser oder schlechter). Yin und Yang stehen für Balance und Ausgewogenheit, Mitte und Maß. Die Wirkungsweise des Universums: Sich nicht bekämpfend, sondern ergänzend.
Also: Daoismus basiert auf Gegensätzen. Für das eine braucht es auch das andere. Und wer beides gleichermaßen ganz weglässt, dem bleibt alles und nichts. Wo alles ist, ist nichts und nur weil nichts ist, kann alles sein. Darum geht es Daoisten auch nicht um “glücklich sein”. Wer Glück als solches sucht oder verfolgt, schafft sich sein Unglück somit erst. Deshalb strebe nicht nach Glück, sondern lebe im Moment und freu dich, dass du bist und erleben darfst, was ist. Erfüllung durch Nicht-Verlangen. Oder Erfüllung durch Nicht-Erfüllung? Das Fass nicht zum Überlaufen bringen!
Passend zu diesem Abschnitt: Dank dem Daodejing und der von Laozi gezeichneten Dualität habe ich die hegelsche Dialektik besser verstanden (These, Antithese, Synthese). Früher dachte ich beispielsweise, dass ich in Diskussionen häufig recht hatte - und mein Gegenüber unrecht. Heute versuche ich die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass beide Seiten recht (und unrecht) haben können, auch, oder eben weil, ich die Hintergründe nicht verstehe. Sind doch alles nur subjektive Meinungen, die wir haben und für wichtig erachten.
Um die Wahrheit zu erkennen, müssen wir den Mund schließen und die Augen öffnen.
Das Dao findest du überall dort, wo du nicht suchst.
De - Tugend, Innere Kraft, Selbstführung
De steht für die Tugend, die innere Kraft, das eigene Selbst. Verantwortung und Vermögen. Tugend in diesem Fall weniger im aristotelischen Sinne (werte- und regelbehaftet), sondern mehr im Sinne von dynamischer Wahrhaftigkeit und naturgemäßer Authentizität. Moral und damit verknüpfte Prinzipien werden im Daoismus eher abgelehnt, weil aus ihnen heraus mehr schlecht als recht entsteht. Gesetze schützen die Mächtigen, im Namen der Gerechtigkeit.
Darum richtet sich dieser zweite Teil des Daodejings (Kapitel 38-81) insbesondere an etwaige Herrscher. Doch nicht nur an irgendwelche Herrscher, sondern vor allem an den Herrscher, der in jedem von uns schlummert. Wir selbst, unsere eigene Führungskraft und Kompetenz. Selbstbestimmung und -wirksamkeit. Unsere Fähigkeit und unser Können. Fassung und Haltung. Selbstbeherrschung und Initiative (jedoch ohne Zwang - mehr dazu gleich). Wenn sich das Dao im Äußeren spiegelt, dann dreht sich dieser Teil um das Innere.
Ein “Learning” bzw. eine Lektion, die ich mit diesem Teil des Daodejings verbinde, ist, dass meine Meinung bzw. ich und das, was ich denke, genauso wichtig und richtig (bzw. genauso unwichtig und verkehrt) ist, wie das, was andere sagen und denken. Nur weil etwas von jemandem gesagt oder getan wird, der groß, stark und laut ist, muss es noch lange nicht richtig oder rechtens sein. Auch wenn etwas von vielen gedacht oder anerkannt wird, ist es nicht richtiger oder falscher, als das, was du oder irgendjemand anderes denkt, macht oder will. Alles nur geistige Konstrukte, Ideologien, Glaubenssätze und Blickwinkel.
Beispiel Rechtschreibung: Vor ein paar hundert Jahren, zur Zeit Goethes etwa, gab es noch keine Rechtschreibung. Da hat jeder einfach so geschrieben, wie er (oder sie) es für passend und angebracht hielt. Sehr angenehm. Mit der Zeit hat sich dann eine genormte Rechtschreibung eingestellt, die heute oftmals gar von einigen verlangt wird. Die Leute fordern “richtige” Kommasetzung und ähnliches - doch wer entscheidet, was richtig ist? Der Staat? Der Duden? Die Mehrheit? Ich denke: Jeder selbst. Du und ich. Ich setze meine Kommas so, wie ich denke, und nutze ein Minuszeichen (-) als Gedankenstrich.
Gerade in Deutschland, mit all den Regeln und Normen, wachsen wir von klein auf mit Automatismen und der Vorstellung auf, dass es für alles einen festen Rahmen und Ablauf gibt. Doch den gibt es nicht. Alles nur von (dominanten) Menschen gemacht. Und auch du kannst machen, was du willst. Frage dich nicht, wie “man” etwas macht, sondern frage dich, wie du es machen würdest. Deine Meinung ist genauso gut, wie die aller anderen. Und nur weil jemand intelligenter, oder stärker, oder schwächer ist, ändert das nichts an der “Wertigkeit” seines Willens. Alles nur subjektive Meinungen, Schall und Rauch.
Auch spannend: Das “De” und die damit zusammenhängende Herrschaft über sich selbst erinnert mich stark an das “Jihad” im Islam - der heilige Krieg. Mancher mag den Begriff mit Krieg und Terror gleichsetzen, andere jedoch verstehen darunter den spirituellen Kampf gegen bzw. in und mit sich selbst. Das tägliche Ringen mit dem Ego. Wie das Daodejing sagt: “Wer andere erkennt, ist klug. Wer sich selbst erkennt, ist weise. Wer andere besiegt, hat Macht. Wer sich selbst besiegt, hat Kraft“. Um (wie ein) Herrscher zu sein, musst du (wie ein) Herrscher sein. Nicht nur nachahmen und so verhalten, sondern SEIN. Das ist alles. Nichts anderes braucht es. Ein Herrscher braucht keine Untertanen. Ein Herrscher herrscht - vor allem über sich selbst.
Wie erhalten wir uns unsere innere Kraft und Herrschaft? Zum Beispiel mit Meditation, oder mit Ritualen und Zeremonien, die unseren Alltag gestalten und die uns präsent bleiben lassen. Eine Lebens- und Betrachtungsweise hegen und pflegen, die sich selbst zur gleichen Zeit schafft und speist, nährt und gebärt. Dem Rhythmus der Welt folgen und den eigenen Geist in Einklang laufen lassen. Heitere Gelassenheit zur Gewohnheit machen. Beständigkeit ergibt sich aus beständigem Tun. Mehr dazu in den folgenden Punkten.
Wu Wei - Nicht-Handeln, Nicht-Eingreifen
Eines der bedeutendsten Prinzipien des Daoismus lautet “Wu Wei” - zu Deutsch: Nicht-Handeln oder Nicht-Eingreifen. Wu bedeutet “nicht” (Verneinung) und Wei bedeutet “Tun/Handeln”. Wu Wei bedeutet also soviel wie loslassen, nicht festhalten, mit dem Momentum gehen, Wandel nutzen und annehmen, offen, flexibel und spontan sein, nichts begehren oder ablehnen, nichts forcieren oder erzwingen.
Wu Wei ist ein Zustand, eine Praktik, müheloses Handeln und im Einklang sein, unideologisiert und absichtslos, nicht berechnend, einfach und natürlich. Loslösen von Gedanken und Nöten - einfach ziehen lassen, wie Wolken. (Innerer) Frieden ist eine Entscheidung. Das Dao lässt sich nicht verändern. Wu Wei bedeutet Freiheit, weil es einen nicht von Wünschen und Bedürfnissen, Theorien und Idealen begrenzen und bedingen lässt, sondern einzig und allein der Wirklichkeit entspricht - 100% deckungsgleich.
An dieser Stelle: Sehr inspirierend zum Thema “Nicht-Ideologie” sowie “Konzept- und Absichtslosigkeit” finde ich den zeitgenössischen Künstler “Jonathan Meese”. Gibt online ein paar tolle Interviews und vieles mehr. Spannendes Weltbild, sehr einzigartig und intuitiv. Sehr Wu Wei. Hat was von Erleuchtung. Große Empfehlung!
Wu Wei ist der einfachste Weg, um ganzheitlich und vollkommen zu sein und zu wirken, eben weil es nicht greift und definiert. Denn: Wer aktiv handelt, einschreitet, bestimmt und kontrolliert, kann immer nur einem Teil der Wahrheit gewahr und nur einem Teil der Wirklichkeit gerecht werden. Wird eine Seite ergriffen, verbleibt eine andere im Schatten.
Doch “Nicht-Tun” bedeutet nicht “Nichtstun”. Es geht um das rechte Wirken zur richtigen Zeit, im Einklang mit dem Dao. Mit dem Strom fließen, statt dagegen. Das eigene Sein und Verhalten gelassen mit den Windungen des Lebens lenken, statt am Lenkrad zu reißen und ausbrechen oder gar anhalten zu wollen. Selbst zum Lebenslauf werden! Vollkommene Hingabe. Spontan und intuitiv, dem Herzen nach Handeln. Mit minimalen Mitteln maximale Wirkung erzielen. Nicht erzwingen, sondern den Wendungen und Impulsen folgen, deren Wirkung sich von selbst entfaltet. Wirksam sein durch das Aufgeben von Kontrollieren-wollen. Frei nach dem Motto: Wer verlieren will, gewinnt immer.
In den Flow kommen (wie Wasser). Das Leben leben, wie ein Musiker sein Instrument spielt. Ohne denken, mühelos und voll versunken im Moment. Eins mit seinem Tun. Mit Gefühl statt mit Gewalt. Selbstvergessen und (auf-) gelöst, bewusst und präsent.
Ein Gedanke dazu: “Wer nichts macht, kann auch nichts verkehrt machen”. Diesen Spruch habe ich unter dem Blickwinkel kennengelernt, dass es für die, die “nichts machen”, ein Leichtes sei, die zu verpöhnen, die etwas machen - und die mit ihrem Tun ja auch Verantwortung und Risiken eingehen und übernehmen würden. Denen, die “nichts machen”, wird suggeriert, dass sie sich nur beschweren dürften, wenn sie selber auch etwas machen würden. Irgendetwas. Hauptsache machen!
Aus einer daoistischen Sicht heraus steht das eigentliche “machen” hingegen oftmals in Konflikt zum guten Leben im Einklang mit den natürlichen Begebenheiten. Wenn wir alle sehr viel weniger von dem “machen” würden, was wir Menschen halt so machen, dann wäre unsere Welt eine gänzlich andere (bessere?). Dem obigen Spruch entsprechend merke ich mir zukünftig: Wer wenig macht, macht per se auch weniger verkehrt.
Mit anderen Worten: Mir ist jeder Träumer, der den ganzen lieben Tag lang in der Hängematte liegt und träumt, lieber, als ein solcher, der da meint, seine Träume, Wünsche und Begehren mit großem Drang umsetzen zu müssen - und der sie den anderen, seiner Umwelt, dem Raum aller und unseren Ressourcen somit aufdrängt. Ich denke da an Millionäre/Milliardäre, Konsumenten, Unternehmer, Militaristen und ähnliche.
Passend dazu möchte ich noch kurz, bevor wir zum nächsten Abschnitt springen, auf die zahlreichen Überschneidungen vom Daoismus zum Anarchismus hinweisen. Für mich IST Daoismus eine ganzheitliche und romantische Version des Anarchismus, und das Daodejing die vielleicht erste bzw. älteste erhaltene anarchistische Schrift. Bewusst wurde mir das insbesondere bei Wu Wei. Nur dass Daoismus eben noch viel mehr ist. Es geht nicht um Nicht-Herrschaft (anarchia), sondern um wahrhaftige Herrschaft.
Also, das und vieles mehr ist Wu Wei. Gegenwärtiges und situationsgerechtes Handeln, in Harmonie und Einigkeit, mit dem Fluss und ohne Zwang! Weiter geht es mit der Essenz hinter Wu Wei, der treibenden Kraft des “De” und der Quelle allen Seins.
Leere, Schweigen, Nicht-Sein, Offenheit
Wo es sich im Buddhismus beispielsweise um Bewusstsein dreht, da dreht es sich im Daoismus um die Leere. Das Nicht-Seiende, das Formlose. Meinen und beschreiben tun beide Philosophien ähnliches. Primär unterscheiden sie sich in der Art der Betrachtung sowie der Form der Beschreibung. Beide Strömungen zeichnen das Bild eines Lebens im Einklang mit der Wirklichkeit. Der in China entstandene Chan- bzw. Zen-Buddhismus ist, grob und vereinfacht ausgedrückt, eine Verschmelzung von Buddhismus und Daoismus.
So wie die Stoiker lehrten, dass wir uns nicht zu allem eine eigene Meinung bilden müssen, so lehrt der Daoismus, dass wir uns am besten nie eine (statische, dogmatische) Meinung bilden sollten. Wenn wir nicht mehr in gut und schlecht, richtig und falsch unterteilen, dann gibt es diese Denkmuster und -systeme auch nicht mehr. Dann sind wir einfach nur, ohne zu werten und zu definieren. Frei. Dann sehen wir die Welt, wie sie wirklich ist.
Erfüllung durch Leere: Nur was leer ist, kann gefüllt werden und nur wo nichts ist, kann etwas entstehen. Was voll ist und weiter befüllt wird, läuft über. Wie ein Krug mit Wasser: Erst sein Leer-Sein ermöglicht ihm, gefüllt zu werden. Indem du immer darauf achtest, genügend Leere (bzw. Nicht-Festhalten, Loslassen und Offenheit) in dir zu kultivieren, wirst du stets genügend Kapazitäten in dir vorfinden, um mit allem umzugehen, was dir das Leben vor die Füße wirft. Form-, wandel- und anpassbar sein, wie Wasser.
Um die Weisheit des Daos zu erfahren und zu erleben, empfiehlt der Daoismus, alle Denkmuster zu vergessen und zu verwerfen. Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht - doch das Dao und die Welt sind im Grunde einfach. Alles passiert von selbst. Wir müssen nur aufhören, Gegebenheiten ändern zu wollen und in Unruhe zu versetzen. Hierzu eine bekannte Geschichte, frei nach dem Daoisten Zhuangzi.
Dialog zwischen zwei Meistern:
Wie machst du Fortschritte im Leben?
Ich sitze im Vergessen.
Und was heißt das?
Ich lasse meine Gliedmaßen fahren, entlasse Blick und Gehör, verlasse Körper und Bewusstsein und bin vollkommen gelöst. Das nenne ich “Im Vergessen sitzen”.
Wenn du alle Fesseln los bist, hast du keine Vorlieben mehr. Wenn du allen Wandlungen der Wirklichkeit folgst, bist du unbefangen. Du bist ein Weiser geworden!
“Vergessen” kann hier auch als Meditation verstanden werden. Wach und klar, ruhig und ohne Denken. Keine Schläue, kein Intellekt, kein verquerendes Interpretieren. Natürlich und offen sein für das, was gerade im Moment geschieht - das, was tatsächlich ist - der Moment, das Dao, die Realität. Einfach SEIN. Es gilt, einen dynamischen, jedoch unbewegten Geist zu entwickeln, ohne das eine zu verneinen oder das andere zu wollen. Keine Vorstellungen und keine Erwartungen.
Ein praktisches Beispiel: Ich treffe einen Freund und möchte ihm etwas erzählen. Ich begrüße ihn freundlich und frage höflichkeitshalber zuerst, wie es ihm geht. Er erzählt ausführlich, was ihn beschäftigt und sagt direkt danach, er müsse nun weiter. Ich konnte ihm nicht sagen, was ich sagen wollte. Bin ich nun dem Kontext entsprechend traurig, enttäuscht, beleidigt oder wütend? Oder gehe ich mit dem Fluss, wünsche ihm alles Gute und denke, konzentriere und besinne mich wieder auf den aktuellen Moment, statt auf meine fiktiven Erwartungen, Begehren und Forderungen an den Lebenslauf?
Denken, konzentrieren und besinnen drückt noch nicht mal aus, was ich meine: Aufhören, an Gedanken zu verharren. Gar nicht erst in Kategorien werten. Nicht-Denken und Nicht-Handeln (Wu Wei). Bewusst Sein. Leer, offen und präsent. Nicht versuchen, die Gegenwart zu bestimmen oder zu kontrollieren. Nicht den Lauf der Dinge in eine bestimmte Richtung pressen wollen. Einfach nur das Richtige - das der Natur entsprechende - tun, in jedem Augenblick. Die Fülle des Lebens durch die eigene Leerheit aufnehmen und ausleben. Jeden Moment so leben, wie er ist, statt zu versuchen, die Dinge einzusortieren, in Schubladen zu packen, zu greifen und zu definieren. Selbst zum Moment werden.
Nicht vollkommen selbstlos, sondern eins mit allem anderen.
Zum Thema Ideologie, ob in Politik, Gesellschaft oder Spiritualität: Wir täten gut daran, nicht blind die Sprache, Gewandung, Zeremonien oder Riten einer Gruppe nachzuahmen, die sich mit irgendeinem Konstrukt oder Gedankenbild identifiziert. Vielmehr empfiehlt es sich, die zugrundeliegenden Gedanken, die jeweilige Grundidee zu verstehen, sie an den eigenen Kontext anzupassen und dann authentisch selber auszuleben. Das kann, ist oder muss vielleicht sogar völlig individuell sein, weil jeder Umstand einzigartig ist. Um im Dao zu leben, es zu verstehen und zu erkennen, musst du nicht zwingend dieselben Termini verwenden, wie die chinesischen Gelehrten. Du musst nicht die gleichen Gewänder und lustigen Hüte tragen. Erkenne die Lehre (und Leere) hinter dem Tun, statt an den Gebaren zu verharren.
Jedes System und Denkmuster birgt die Gefahr, andere Möglichkeiten, andere Aspekte der Wirklichkeit auszuschließen und wirkt deshalb auf Dauer destruktiv. Vergiss, was du weißt und öffne deinen Geist.
Leere bedeutet Gelassenheit. Loslassen. Nicht-Anhaften. Offen sein.
Wer unfehlbar sein will, muss aufhören zu greifen und zu definieren.
Wer das Dao greift, verliert es.
Wer sich das Verlieren zu eigen macht, begreift es.
Wer nicht greift, kann nicht verlieren.
Ursprünglichkeit, Natürlichkeit, Einfachheit
Ein weiterer, essentieller Aspekt im Daoismus ist die Natürlichkeit. Die Natur als Vorbild und wir als ein Teil von ihr. Der Sinn und Grund von allem. Wasser ist dabei eines der meistgenutzten Bilder zum Beschreiben des Handelns gemäß dem Wirken des Daos. Wasser fließt, ist formbar und passt sich immer den Gegebenheiten an. Trotz seiner Weichheit - oder gerade deswegen - überkommt es selbst das Härteste, höhlt sich Tropfen um Tropfen, beständig selbst durch Stein. Hierher stammt auch Bruce Lees bekannter Spruch: “Be water, my friend”. Dynamisch und flexibel wie Wasser sein, statt stur und starr, wie ein Stein.
Als praktischer und konkreter Punkt empfiehlt das Daodejing beispielsweise bei Konflikten wie Wasser zu sein. Wer beim Streiten die Position einnimmt, welche von den meisten sonst gemieden wird, der ist dem Dao nahe. Wo sich die meisten hohen Hauptes behaupten wollen, fügt sich der Daoist freudig wie Wasser, und fließt beschwingt zum niedersten Punkt.
Wer nicht (be-) streitet, mit dem kann auch nicht gestritten werden. Das bedeutet nicht zwingend unterwürfig sein, nur keine Angriffsfläche bieten. Wofür auch? Ehre? Ego? Überzeugung? Wie Bambus sein, der sich im Wind legt und bei Ruhe wieder aufrichtet. Die Weiblichkeit als Ideal. Sich den Gegebenheiten anpassen, statt stur mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Die Schwäche zur Stärke machen.
Damit geht einher, dass der Daoismus eben auch empfiehlt, nichts anzustreben, das von anderen heiß begehrt wird. Wer Reichtum und Ruhm anhäuft, schafft sich im gleichen Maße auch Angst und Gefahr. Eben, weil es andere gibt, die haben wollen, was alle haben wollen, gibt es kämpfe und streit. Der Daoist verzichtet darauf und entgeht somit großem Übel, wie Neid, List, Lug und Betrug, weil er sich nicht zur Zielscheibe macht, weil er nichts hat. Nur das Nötige, Grundlegende, Einfache - und davon gibt es in der Regel reichlich genug.
Zwei Sprüche von Epikur zu diesem Thema:
"Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug."
"Was gut ist, ist leicht zu bekommen."
Aber auch mit Steinen wird das ideale Verhalten eines Daoisten verglichen. Zum Beispiel wird an einer Stelle im Daodejing empfohlen, im Inneren wie teure Jade - aufrichtig strahlend, für sich selbst, um des eigenen Willens, integer und intrinsisch motiviert - und nach außen hin wie ein rauer Gedenkstein zu sein. Verwittert, wie die Natur, schlicht und einfach. Wie unbeschlagenes Holz. Unverfälscht und im Rohzustand. Echt, authentisch, kraftvoll und harmonisch. Intuitiv und spontan, undogmatisch und unindoktriniert.
Der wirkliche Wert liegt nicht in irgendwelchen Edelsteinen (das schafft Leid), sondern in unserem Inneren. Wohlsein ist wichtig! Vergiss die Steine.
Im gleichen Zuge spielt auch die Ursprünglichkeit eine zentrale Rolle. Die Verbindung zu unserem Ursprung, der Grund für alles Seiende. Diese Ursprünglichkeit und Urverbundenheit mit allem Sein und Nicht-Sein ist ein elementarer Teil der daoistischen Mystik und eine fundamentale Quelle an Kraft und Sinn für die Praxis und Auslebung des Daoismus im Alltag. Rationaler oder säkularer (rein wissenschaftlicher) Daoismus geht nicht und gibt es nicht. Der mystische bzw. spirituelle Teil ist entscheidend. Wer das nicht versteht und entsprechend lebt, lebt am Kern des ursprünglichen Daoismus vorbei.
Praxis und Leben ist ein gutes Stichwort: Es geht um die bewusste Umsetzung der Leere in jedem Moment, für die immense Fülle im Hier und Jetzt. Und sich diesem Ursprung aller Dinge, der Urmutter, der Grundlage von allem, täglich geistig und spirituell bewusst zu sein und zu bleiben (durch Meditation, Rezitation, Rituale, etc.), ist, was uns am Ende die Kraft und Energie gibt, um eben diese Verbindung aufrecht zu erhalten. Die geistige Verbindung, Bewusstsein, zur Gewohnheit machen.
Ohne Verbindung, keine Verbindung. Manche Dinge sind so simpel!
Dem Leben voll verschreiben, weil es das Leben wert ist.
Was ist der Ursprung? Kopf aus, Mund zu, Augen auf.
Ursprung ist allgegenwärtig.
Und passend zum Ursprung, ein weiterer wichtiger Teil des Daoismus: Die Ewigkeit, die Unendlichkeit. Beides geht Hand in Hand, wie Yin und Yang. Vielleicht weil das Daodejing in so kriegerischen Zeiten entstand, legt die zugrunde liegende Philosophie großen Wert darauf, Probleme zu umgehen und ein langes Leben anzuleiten. An einer Stelle heißt es: Brutale und Gewaltige werden nicht ihres natürlichen Todes sterben. Daoismus sieht eine große Kraft in der Unendlichkeit und der damit einhergehenden harmonischen Lebensweise und ein großes Übel in der Gewalt, die mit ihren schneidenden Mitteln im Stande ist, diese Harmonie zu durchbrechen - und den Tod zu bringen.
Mehr dazu im nächsten Absatz.
Gelassenheit, Mäßigung, Bescheidenheit
Und aus allem bisherigen ergibt sich - als schlüssige Lebensweise - Gelassenheit, Mäßigung und Bescheidenheit! Sind wir doch alle nichts, als gleichermaßen Schüler auf dem Schiffchen Erde. Wer sich dem Nichts widmet (und damit allem), hat auch nichts zu verlieren (und damit alles). Damit einhergehend predigt Daoismus konsequente Gewaltlosigkeit. Wem steht es als Lebewesen zu, einem anderen Lebewesen zu sagen, wie etwas getan oder gelassen werden soll, wenn nicht aufgrund seiner Kraft und Überlegenheit, mittels Zwang und Gewalt?
Mal einen Schritt zurücktreten, die Dinge nicht komplizierter machen, als sie sind: Die Worte Zwang und Gewalt sind im Allgemeinen klar negativ konnotiert. Zwang und Gewalt gebären Zwang und Gewalt. Der Begriff Gewalt kommt ursprünglich von dem Wort “Walten”, was früher auch in Zusammenhang mit Begriffen wie Unrecht, Stärke oder Macht stand. Und auch heute nutzen wir das Wort im Sinne von “verwalten” oder “machen” (machen = Macht ausüben). Und eben darum geht es ja nicht.
Deshalb Wu Wei: Nicht-Machen. Nicht die Welt den eigenen Bedürfnissen anpassen und umgestalten, sondern sich selbst der Welt und den Begebenheiten fügen. Und das ist nicht nur auf Mitmenschen bezogen, sondern auf den ganzen Rest des Planeten bzw. des Universums. Die Tiere, die Pflanzen, die Elemente, das Leben, die Erde… Menschen machen nur einen sehr kleinen Teil des Ganzen aus, fordern aber den Großteil des Kuchens für sich selbst - mit Zwang und Gewalt.
Wozu führt das? Zu Ungleichgewicht: Klimawandel, Artensterben, vergiftete Flüsse, gerodete Wälder, etc. Schaffen wir eine lebensfeindliche Umwelt, steht auch unser Leben auf dem Spiel. Behandle andere so, wie sie es sich wünschen, so wie auch du behandelt werden willst, wie du es dir wünscht. Das gilt für alle Lebewesen. Sonst klappt das mit der Einheit nicht. Lassen wir eine Seite von der Waage kippen, wird auch die andere Seite untergehen.
Eine zeichnende Strophe im Daodejing lautet:
“Wer anderen überlegen,
dient ihnen untergeben.”
Das Gegenteil wäre ausbeuten und ausnutzen.
Im Daoismus dreht sich alles um die (kosmische) Harmonie. Deshalb auch die Leere - um die Harmonie aufnehmen und mit ihr in Ein- und Gleichklang resonieren zu können, wie die Leere eines Resonanzkörpers selbst zum Schall wird.
Und Harmonie bedeutet zu tun, was getan werden muss, und durchzustehen bzw. damit einherzugehen, was der natürliche Lauf hervorbringt. An einer Stelle im Daodejing wird die Harmonie mit einem schreienden Kind verglichen. Das als den Sinn anzunehmen und sich dem voll zu widmen, gelingt mit, und schafft: Gelassenheit, Mäßigung und Bescheidenheit.
Wer sich Schwierigkeiten hingibt, schafft Leichtigkeit.
Wer sich Leichtigkeit hingibt, schafft Schwierigkeiten.
Auf das zu verzichten, was andere begehren, und das zu verfolgen, was andere nicht wollen (z. B. nachgeben können aufgrund von Unbefangenheit), ermöglicht uns, immer genug von dem zu haben, was reichlich vorhanden ist, ohne mit irgendjemandem in Konflikt oder Konkurrenz zu treten. Ressourcen, Lebensraum und Grundnahrungsmittel sind beispielsweise reichlich vorhanden, doch weil manche mehr wollen, wird es für alle knapp.
Friedfertigkeit und Zufriedenheit gehen Hand in Hand. Den inneren Frieden, die Mitte, das Equilibrium zu “befrieden” - in Balance zu bringen und stabil zu halten, das ist, was einen am Ende zufrieden sein lässt. Bist du unzufrieden, gibt es irgendwo einen Ausschlag. Nicht-Frieden führt zu Unzufriedenheit. Frieden führt zu Zufriedenheit.
Das Hohe fußt auf dem Niederen. Das Fundament. Die Basis. Das Größte klein zu machen, das eigene Ego zu bändigen, ist wahre Größe. Dir selbst magst du groß und bedeutend erscheinen, doch dich als kleines Teil vom Ganzen zu erkennen, lässt dich erst deine wahre Größe finden. Wie Wasser, das stets zum niedrigsten Punkt fließt. Wie kleine Flüsse, in großen Strömungen, immerzu das Meer befüllen. Übermaß endet immer in Verdruss. Was erblüht, das wird vergehen. Wer gewinnt, der wird verlieren - wer verliert, der wird gewinnen.
Gelassenheit, Mäßigung und Bescheidenheit sind praktische Formen von Wu Wei. Achtsamkeit und Aufrichtigkeit. Durch das Loslassen von eigenem Ego, Gier und Drang (durch Leere) wird der Wirklichkeit sowie dem Umfeld entsprechendes Handeln erst ermöglicht. Der Asket verzichtet auf alles, was ihn einschränken könnte. Wer keine Grenzen kennt, bei dem können auch keine Grenzen überschritten werden. Leuchten statt blenden. Auf dem Boden bleiben statt abzuheben.
Der eigenen Fehlbarkeit und Beschränktheit bewusst sein. Selbst wenn ich denke, etwas zu wissen, kann ich mir doch nie sicher sein, denn immer gibt es weitere relevante Aspekte und Blickwinkel der Wirklichkeit, sehe ich doch nur einen kleinen Teil davon. Und wenn man bedenkt, dass das Gegenteil einer Ansicht zumeist genauso wahr ist, bedeutet das, dass die Dinge nie so sind, wie sie scheinen: Das hilft mir oftmals, Dinge bescheiden und gelassen anzunehmen und zu akzeptieren, statt ignorant und aufgebracht meine Meinung durchsetzen zu wollen.
Ein weiterer praktischer Tipp: Wenn du wütend wirst und merkst, dass du in rage verfällst und nicht mehr wirklich an dich halten kannst - einfach in Schweigen verfallen. Nicht so leicht wie es sich sagen lässt, aber doch der einfachste Weg, den ich für mich gefunden habe, und den ich üben darf, wann immer sich ein Streit ergibt. Lieber Schweigen, statt Schreien - bis du die Fassung wieder hergestellt hast und du über dich herrscht, statt dich in Gefühlen und Emotionen zu verlieren.
Fazit und Zusammenfassung
Bevor ich zu meinem abschließenden Fazit komme, hier noch ein kleiner Einblick in meine erste persönliche Erfahrung oder Begegnung mit dem Dao. Bewusst und unbewusst zugleich. Das war in der Schule. 9. Klasse oder so. Da traf mich eine Erkenntnis, die mich für ein paar Tage regelrecht berauscht sein ließ. Und zwar stellte ich damals fest, dass irgendwie das Schicksal schon alles regelt. Vielleicht sah ich eine Art Karma. Ein paar Sachen geschahen und kurz darauf folgte wie von selbst die Quittung.
So in etwa meinte ich damals zu sehen. Und das in diesen Tagen mit einer Gewissheit, die mich spontan von innen heraus lachen ließ. Nicht aus Schadenfreude, sondern eher, weil ich mir meiner eigenen Unwichtigkeit bzw. der Nichtigkeit aller Handlungen bewusst wurde. Das Leben macht und schafft alles allein. Alles hängt mit allem zusammen und befindet sich in ständiger Balance. Wer A macht, kriegt auch A - mit all seinen Konsequenzen - und ich kann oder muss nichts dazu tun. Alles passiert, wie es ist.
Zu dieser Zeit vertraute ich meinem Schicksal sehr und ich sah, wenn ich gute Sachen mache, wird es gut um mich - wenn ich schlechte Sachen mache, wird es schlecht um mich. Heute denke ich, damals das Dao gesehen zu haben, ohne den Begriff zu kennen. In diesen 3-4 Tagen meines vom Schicksal berauscht seins, in dieser oftmals auch schweren Zeit, fand ich oder fand mich, eines meiner Leitmotive, nämlich der Satz: “Zurücklehnen und lächeln”. Alles regelt sich von selbst. Mich braucht es nicht. Das ist und war sehr befreiend.
Des Weiteren hat mich Daoismus den Buddhismus ganz neu verstehen lassen und mir die Augen für die Zen-Praxis geöffnet. Viele Konzepte wie zum Beispiel “Klarsicht” (Erleuchtung) oder die “Leere” (Bewusstsein) sehe ich jetzt klarer. Mein Bild über Werte, Moral und Gerechtigkeit hat sich grundlegend verändert und ich verstehe Nietzsche sehr viel besser. Auch Hegel, Heidegger, Wittgenstein und Co. durfte ich näher kennenlernen.
Ich habe ein positives und ganzheitliches Pendant zum Anarchismus gefunden und sowohl die Mystik als auch die Esoterik als einen Teil meiner Spiritualität und Philosophie dazu gewonnen. Und für mich der wertvollste Gewinn von allen: Ein komplettes Framework zum einfachen und natürlichen Leben, von der Metaphysik bis zur konkreten Praxis im Alltag! Ein Konzept, das, eben weil es auch das Kleinste achtet, das Größte im Stande zu vollbringen bereit ist.
Für weitere Infos, hier noch die standard Buch-Empfehlungen zum Daoismus:
-
Laozi - Daodejing (meine Version: Daodejing)
-
Zhuangzi - Das Buch der daoistischen Weisheit
-
Liezi - Das wahre Buch vom quellenden Urgrund
Ich bin im Besitz all dieser Werke und finde sie sehr schön, wenn auch zeitweilig ein wenig langweilig. Nur das Daodejing habe ich komplett gelesen. Und, eben, wie das Daodejing und viele andere Weisheits-Bücher empfehlen: Es geht ums Leben, nicht ums Lesen. Weniger studieren, mehr praktizieren. Aber alles hat seine Zeit und die Bücher sind in jedem Fall ein toller Einstieg und eine Quelle der Inspiration. Hermann Hesse zum Beispiel fand im Buch von Zhuangzi vieles, das sich in Werken wie Siddharta widerspiegelt (sein Lieblingsbuch?).
Meine absolute Empfehlung: Lies und studiere das Daodejing. Sehr kompakt und grundlegend - 1 Stunde reine Lesezeit. Zum Verstehen braucht es aber deutlich länger. Im Daodejing kristallisiert sich systematisch die Essenz des kompletten Daoismus. Am besten verschiedene Übersetzungen verschiedener Autoren parallel lesen - Zeile für Zeile, Kapitel für Kapitel. Auch online sind viele Versionen kostenlos abrufbar. Nach der Bibel das zweit meist übersetzte Buch der Welt. Mach dir selbst ein Bild.
Und zum Abschluss: Den folgenden Absatz habe ich vermutlich so oder so ähnlich im Internet gelesen, die genaue Quelle ist mir leider nicht (mehr?) bekannt, doch halte ich es für erwähnenswert: Der Mensch, der im Dao wirkt, kümmert sich weder um seinen eigenen Vorteil, noch verachtet er diejenigen, die es tun. Er strengt sich nicht an, Geld zu verdienen und macht aus Armut keine Tugend. Er geht seines Weges ohne sich auf andere zu verlassen und ist nicht stolz darauf, unabhängig zu sein. Während er selber nicht der Menge folgt, beklagt er sich nicht über diejenigen, die es tun. Rang und Lohn reizen ihn nicht, Schande und Scham schrecken ihn nicht. Er schaut nicht immer auf richtig und falsch, und sagt nicht dauernd „Ja“ und „Nein“. Einfach sein, wie alles ist!
Liebe Grüße und alles Gute,
Adrean